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Vermeer VI
(TiananmenMan)
2018

 
Vermeer VI (TiananmenMan)

Walter Stach

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Daniele Muscionico
Bilder sind nicht harmlos. Wer das denkt, täuscht sich gewaltig. Denn das Objektiv zielt immer aufs Herz
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
24.01.2020
 

Fotografie macht die Welt sichtbar. Und das Pressebild zeigt als erstes, was wir sehen sollen.

Der Mann stoppte auf dem Tiananmen-Platz mit blossen Händen einen Konvoi von tonnenschwerem, tödlichem Stahl. Am 5. Juni 1989 stellte sich ein anonymer Chinese vor die vorrückenden Panzer der Regierung, die gegen protestierende Studenten anrollten. Nichts als diese Tat ist über den Menschen bekannt, «Tank Man» ist, nur Tage später, sein Name. Bis heute ist er unvergessen. Die Szene seiner Zivilcourage ist Teil der Ausstellung «Striking Moments in Photojournalism», einer der letzten in der Zürcher Photobastei. Der Rückblick in die Politgeschichte des 20. Jahrhunderts ist erschütternd und führt einem die menschlichen Triebe und Greuel unverhüllt vor Augen.

Ein Protestierender stellt sich am 5. Juni 1989 in Peking dem Konvoi der Regierungspanzer in den Weg. Jeff Widener / AP
Ein Protestierender stellt sich am 5. Juni 1989
in Peking dem Konvoi der Regierungspanzer
in den Weg.
Jeff Widener / AP

Zugemutet wird dem Betrachter einiges. Es sind etwa die Bilder aus dem KZ Bergen-Belsen, wie sie der mit dem britischen Heer vorrückende Foto-journalist George Rodger am 15. April 1945 aufnahm. Es scheint undenkbar, dass sie in ihrem Realismus heute noch veröffentlicht würden. Rodger, der spätere Gründer der Agentur Magnum, war der erste Fotograf, der das Lager betrat – er traf auf Berge von unbegrabenen, ineinander verknoteten Toten. Der Reporter hielt sie fest, weil er es für seine Pflicht hielt.

Ähnlich die Haltung des Magnum-Fotografen Chris Steele-Perkins. Er fotografierte 1980 die Hungersnot in Uganda so, wie sie heute keinem Betrachter mehr zugemutet wird: Die Hungernden sind nur mehr leere Hautsäcke aus Knochen. Eine gegensätzliche Moral vertritt an derselben Ausstellungswand Sebastião Salgado. Er macht aus Menschen Hungerskelette im Dienste einer ätherisch attraktiven, biblischen Bildkomposition.

Der «Tank Man» blieb bis heute verschwunden

Die Fotografie ist ein Feuerbringer, ein Prometheus, der uns das Bild der Welt bringt. Doch die Macht der Bilder ist die Macht ihrer Autoren. Sie entscheiden darüber, was wir sehen und wie wir es bewerten. Das zeigt auch die Ikone des «Tank Man». Bekannt gemacht hat ihn das Pressebild: Während der Proteste nämlich stand einige hundert Meter vom Platz des himmlischen Friedens entfernt, im sechsten Stockwerk auf dem Balkon des Beijing Hotel, der amerikanische Fotograf der Associated Press Jeff Widener.

Der Fotojournalist lebt heute in Hamburg und erzählt die Geschichte immer wieder: Wie er sich, zwar von einem fliegenden Stein, der ihn während der Proteste am Kopf schwer verletzt, in das Hotel schmuggeln konnte, die Kamera versteckt unter der Jacke, die Filme verborgen in seiner Unterhose. Wie er durch die Unterstützung eines amerikanischen Studenten in ein Zimmer gelangte und von jenem später auch mit weiteren Filmen versorgt wurde, als die eigenen aufgebraucht waren: Der Amerikaner schwatzte sie den Hotelgästen ab.

Als Jeff Widener den Chinesen mit den Taschen auf dem Platz sah, hielt er mit einem 800-Millimeter Ultra-Teleobjektiv darauf – er wartete darauf, dass jener erschossen würde. Doch nichts geschah.

Widener beobachtete, wie der Protestierende auf die Kampffahrzeuge klettert, mit der Besatzung sprach, wie er wieder herunterstieg, seine beiden Einkaufstaschen hochhob – und sich damit vor die Panzer stellte. Jetzt machte der Fotograf sein entscheidendes Bild. Momente später zogen Passanten den Mann von der Strasse. Seitdem gilt er als verschollen. Widener indessen bekommt bis heute Post von Menschen aus der ganzen Welt, die ihm schreiben, dass ihnen der Widerstand des «Tank Man» Mut mache.

«Striking Moments in Photojournalism»: Ein Unbekannter stiehlt während einer Parade 1960 dem König von Belgien in Leopoldville, der Hauptstadt der belgischen Kolonie Kongo, den  Säbel. Robert Lebeck 
«Striking Moments in Photojournalism»:
Ein Unbekannter stiehlt während einer Parade
1960 dem König von Belgien in Leopoldville,
der Hauptstadt der belgischen Kolonie Kongo,
den Säbel.
Robert Lebeck

Heroische Männer in ehrenhafter Mission

Von heroischen Momenten, von Heldengeschichten und ihren Opfern erzählt die Ausstellung «Striking Moments in Photojournalism 1932–1989», und sie hat dafür die besten Argumente. 120 historische Bild-Ikonen, in der Mehrheit aus dem Archiv der Agentur Magnum, reihen sich aneinander wie grausige Erinnerungen einer Biografie. Die Bilder der grossen Erzähler wie Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Inge Morath oder Jeff Widener beschwören die goldene Zeit des Fotojournalismus.

Es ist ein Bestentreffen der Autorenfotografen – und ihrer kaum existenten Kolleginnen –, ein Schaulaufen der politischen Entscheidungsträger des letzten Jahrhunderts und zugleich eine Geisterbahn an Weltschrecken. Der Kurator Romano Zerbini reiht die Fotografien mit einer Zeitachse auf und erinnert an all die Kriege und Krisen, vom Spanischen Bürgerkrieg über den Zweiten Weltkrieg, den Koreakrieg und den Kalten Krieg bis zum Massaker auf dem Tiananmen-Platz.

Brauchte es noch einen Beweis, dass auf der Welt Friedenszeiten Ausnahmezeiten sind und der Normalzustand Krieg heisst, man müsste die Ausstellung zum Pflichtbesuch für junge Menschen erklären. Zerbini, der erst kürzlich das Ende seines Projekts Photobastei bekanntgegeben hat, bezeichnet die Ausstellung als sein «Vermächtnis». Doch auch für ihn gilt: Wer das Bild hat, hat die Macht. Die Macht liegt hier allerdings beim Kurator.

Denn Zerbini führt den Besucher der Ausstellung nicht nur entlang der historischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts und ihrer Bilder. Er führt sie auch entlang seines Essays, in dem er den humanistischen Absichten des Fotojournalismus, wie ihn jene heroischen Männer von Magnum hochhielten, einen Grabstein setzt.

Das Bild ist eine Waffe

Zerbini konstatiert nicht weniger als das «Ende des Fotojournalismus». Er hat dafür ein Datum – 1989. Die Digitalisierung führte damals zu einer ersten Bilderflut. Und Zerbini hat auch einen Schuldigen zur Hand. Es ist für ihn der Markt, der Unterhaltung statt Inhalt priorisiere, der mit seinen ökonomischen Gesetzen die Fotografierenden zu Dienstleistern degradiere. Ein Fazit, das zutiefst kulturpessimistisch ist.

Es ist nicht kleinzureden: Schwindende Budgets, der wachsende Konkurrenz-kampf der Medien sowie das Misstrauen gegenüber der Presse haben den Fotojournalismus radikal verändert. Doch neue Technologien, neue Kameras, die erweiterten Erzählformate des digitalen Zeitalters haben neue Gefässe – und auch neue Freiheiten – möglich gemacht. Anders als im klassischen Fotojournalismus können Bilder heute ohne Umweg über eine Bildagentur oder Bildredaktion die Öffentlichkeit erreichen. Fotojournalismus ist nicht in seiner Existenz bedroht, das Gegenteil zeichnet sich ab: Fotojournalismus wird immer demokratischer. Die Frage allerdings, wie im Netz, ohne etablierte Vertriebsstruktur, Bilder ihr zahlungswilliges Publikum finden, sucht weiter-hin nach einer Antwort.

Die Macht des Bildes ist eine Konstante unserer Kulturgeschichte. Und nie war das Bild so kontrovers debattiert wie im Zeitalter von Social Media und Fake-News. Die Schaulust erlebt einen hysterischen Boom, und die brennende Frage nach Original und Manipulation ist der Fotografie unmittelbar eingeschrieben. Wieso sollen wir sehen, was wir sehen? Wer profitiert davon, und wer bürgt für die Echtheit des Gesehenen?

Auch beunruhigende Fragen um das Wesen von Bildern schmälern ihre Wirkung nicht. Denn ihre Attraktivität und ihre Suggestionskraft entsprechen einem Gesetz der Natur: Bilder wirken unmittelbar auf das Authentischste, was wir besitzen – die Gefühle. Fotografische Bilder sind Gefühlsgeneratoren. Unterschätzen wir die Fotografie nicht. Sie ist ein Demiurg, der seine Fesseln gesprengt hat.

Berlin, Nacht vom 9. auf den 10. November 1989, in der Nähe des Brandenburger Tores. José Giribás Marambio
Berlin, Nacht vom 9. auf den 10. November 1989,
in der Nähe des Brandenburger Tores.
José Giribás Marambio

https://www.nzz.ch/feuilleton/fotografie-das-objektiv-zielt-immer-aufs-herz-und-trifft-ld.1535960
Aufruf: 24.01.2020

 
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