Vermeer IV |
DE |
|||
---|---|---|---|---|
Reiner Luyken |
Ein gigantischer Prozess soll klären, wer vor zwölf Jahren den Bombenanschlag auf den Flug PA 103 verübt hatDer Gerichtsdiener ruft: „Zeuge Nummer 684, Abdul Majid Abdul Razkaz Abdul Salam Giaka.” Der 684. ist der Starzeuge in einem Prozess, in dem es um einen der großen Massenmorde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geht, den Absturz des Jumbojets Maid of the Seas der Pan American Airways. Das Flugzeug explodierte am 21. Dezember 1988 eine halbe Stunde nach dem Start in London Heathrow über der schottischen Kleinstadt Lockerbie. Alle 259 Passagiere kamen bei dem Anschlag um. Dazu weitere 11 Menschen, auf deren Häuser die auseinander brechende Maschine stürzte. Hinter einer schusssicheren Glaswand, die den Gerichtssaal vom Zuschauerraum trennt, sitzen die beiden Angeklagten. Der 48-jährige Abdelbaset Ali Mohmed Al Megrahi strahlt würdevolle Ruhe aus. Der 44-jährige Al Amin Khalifa Fhimah macht den Eindruck, als befände sich nicht nur zwischen ihm und dem Zuschauerraum, sondern auch zwischen ihm und der ganzen Welt eine Scheibe. Beide tragen libysche Tracht. Strammbäuchige Polizisten rahmen sie ein. Als die Angeklagten hereingeführt wurden, winkten sie ihren halbwüchsigen Kindern, ihren Frauen und Verwandten zu, die auf den linken Bankreihen im Zuschauerraum Platz genommen hatten. Zwölf Jahre Ermittlungen, die auch während des Verfahrens noch nicht zu Ende sind, Hunderte von Zeugen, über 100 000 Beweisstücke - und trotzdem scheint die Wahrheit über das Verbrechen sich immer weiter zu verflüchtigen, je länger der Prozess dauert. Seit Mai wird bereits verhandelt. Über 100 Millionen Mark hat allein der Prozess bislang gekostet, für den in den Niederlanden eigens ein Gericht gebaut wurde. Kamp van Zeist ist ein 1994 aufgelassener Stützpunkt der amerikanischen Air Force. Bis an die Zähne bewaffnete Polizisten bewachen die Einfahrt. Jedes Auto wird in einem überdachten Stellplatz durchsucht. Jenseits des Parkplatzes eine unbezwingbare, oberhalb mit 13 Drähten elektrifizierte Mauer. Dahinter liegt das Gefängnis, ein ehemaliger Atombunker. Davor steht ein geländegängiger Einsatzwagen mit offenen Türen und laufendem Motor, als habe gerade jemand ausbrechen wollen. Das Manöver ist tägliche Routine. Ein Hundeführer lässt sein an der Leine zerrendes Tier Sprengstoff schnüffeln, damit es die Witterung nicht verliert. Was früher die Turnhalle des Stützpunkts war, wurde in ein Medienzentrum mit 230 Arbeitsplätzen umgebaut. Die Verhandlung wird aus dem Gerichtssaal in Englisch und Arabisch auf Monitoren übertragen. Ein halbes Dutzend Agenturreporter sitzt verloren in der riesigen Halle. Ebenso verlassen eine zweistöckige TV-Bühne mit 16 halb offenen Räumen für Live-Übertragungen vor dem Gerichtsgebäude. Die Starkorrespondenten der CNN und ABC, der Murdoch- und Berlusconi-Kanäle lassen sich nicht blicken. Das Verfahren läuft fast unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ab. Die einen meinen, es sei „zu technisch”. Der Gerichtskorrespondent der BBC beklagte sich, ein von der Staatsanwaltschaft forciertes Geheimhaltungsklima mache eine ausgewogene Berichterstattung unmöglich. Am Eingang des Gerichts steht in ehernen Lettern auf einer aus Sandstein gemauerten Wand High Court of Justiciary, ein Stück in die Niederlande verpflanztes Edinburgh. Der Prozess läuft in Holland nach schottischem Recht ab (siehe Neutraler Boden auf Seite 19). Ein weiteres Mal wird jeder Besucher durch eine Sicherheitsschleuse gelotst. Die Polizisten kennen die meisten Besucher. Die meisten Besucher kennen sich untereinander. Viele sind Angehörige der Opfer. Zwischen ihnen und den Familien der Angeklagten scheint schon fast eine herzliche Koexistenz zu herrschen. Von Feindseligkeit jedenfalls keine Spur. Lord Sutherland überragt die Anwälte wie ein Hohepriester Die beiden Männer hinter dem Panzerglas werden beschuldigt, einen braunen Samsonite-Koffer, in dem die Bombe versteckt war, im Flughafen Luqa auf Malta aufgegeben zu haben. Der Anklage zufolge ging das Gepäckstück mit einem gestohlenen rush tag (einem Schildchen, mit dem unbegleitetes Gepäck gekennzeichnet wird) mit Air Malta nach Frankfurt, wurde auf einen Zubringerflug der Pan Am nach London umgeladen und in London auf den Jumbo transferiert. Die Anklage stützt sich auf einen aus Indizien zusammengestückelten, hypothetischen Ablauf des Geschehens. Und auf Giaka, einen Zeugen aus der geheimdienstlichen Schattenwelt. Der zur CIA übergelaufene libysche Agent tritt hinter einer Gardine auf. Seine Umrisse sind nur zu ahnen. Auf den Bildschirmen, die im Zuschauerraum hängen, erscheint er als grün, lila und schwarz oszillierendes Quadratmuster. Ein Phantom, das sich jeder Charakterisierung entzieht, irrlichternd wie so vieles in diesem Prozess, in dem es auch darum geht, ob eine für die Ahndung normaler Verbrechen bestimmte Justiz überhaupt je in der Lage sein kann, planvoll ausgeführte Akte internationalen Terrors ans Licht treten zu lassen, die Wahrheit herauszufinden und die Tat zu sühnen. Bereits vorgenommene Versuche führten nicht zum Erfolg. Lord Sutherland, der den Vorsitz führende Richter, ragt mit zum Schwur erhobener Hand wie ein Hohepriester über den Advokaten und Anwälten, über den Aktenschiebern und Bütteln auf, als er dem Zeugen den Eid vorspricht: „Ich schwöre bei Gott, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit.” Giaka spricht den Eid nach. Die Simultanübersetzung überlagert seine Stimme, die auf dem arabischen Kanal der Kopfhörer zur Stimme eines Bauchredners verzerrt ist. Der Staatsanwalt hat ein Organ wie ein Diamantschneider. Doch als er den Starzeugen ins Verhör nimmt, fehlt ihm der Schliff. Giaka gibt viele Episoden zum Besten und wenig harte Tatsachen. Er sagt aus, der Angeklagte Fhimah habe ihm einmal zwei ziegelsteingroße Blöcke Sprengstoff in einer Schublade des Flughafenbüros der Libyan Arab Airlines in Luqa gezeigt. Fhimah leitete das Büro. Er, Giaka, sei sein Stellvertreter gewesen. Fhimah habe ihm erklärt, der Angeklagte Megrahi habe den Sprengstoff geliefert. Fhimah und Megrahi seien Mitarbeiter des libyschen Geheimdienstes JSO gewesen, Megrahi sogar in hoher Stellung. Der Vorfall habe sich zwei Jahre vor dem Anschlag abgespielt. Im Dezember 1988, kurz vor dem Absturz der Maid of the Seas, erklärt Giaka weiter, trafen Fhimah und Megrahi aus Tripolis in Malta ein. Sie brachten einen braunen Samsonite-Koffer mit. Darüber, was mit dem Koffer weiter geschah, weiß er nichts. Ein Spaziergänger hatte 18 Monate nach der Katastrophe in weitem Abstand von der Absturzstelle Kleider gefunden. Er meldete den Fund der Polizei. Die Kleider - eine weiße Hose, ein T-Shirt, ein graues Hemd, weiße Jogginghosen, ein braunes Hemd der Marke Yorkie und eine blaue Babystrampelhose - stammten, das fand die Polizei anhand der Etiketten heraus, aus Malta, aus dem Textilienladen Mary's House in Sliema. In den Kleidern hafteten winzige Bruchstücke einer Schaltuhr vom Typ MST-13. Kriminaltechniker hatten die Bombe als ein mit 400 Gramm Plastiksprengstoff zur Bombe umgebautes Tonbandgerät der Marke Toshiba, Typ RT SF 16 Bombeat, identifiziert. Die Bombe war offenbar in die Kleider aus Malta eingewickelt und, das schlossen die Fachleute aus an der Absturzstelle gefundenen Fragmenten, in einem braunen Samsonite-Koffer verpackt. Die Fragmente der Schaltuhr wiesen zur Schweizer Firma Mebo(siehe Eine Spur führt in die Schweiz auf dieser Seite). Die Gesellschafter der Mebo, Edwin Bollier und Erwin Meister, wurden im Juni vom Gericht vernommen. Meister nannte unter seinen libyschen Kontaktpersonen neben dem Angeklagten Megrahi auch einen gewissen Said Rashid. Der Starzeuge Giaka sagt nun aus, dieser Said Rashid habe ihn einmal beauftragt, die Möglichkeit zu prüfen, ein unbegleitetes Gepäckstück in Malta auf ein englisches Flugzeug zu schmuggeln. Er, Giaka, habe das für durchführbar gehalten und einen entsprechenden Bericht verfasst. Er habe mit Megrahi darüber gesprochen. Megrahi habe ihn angewiesen, „nichts zu überstürzen”. Das war Mitte 1986, ebenfalls mehr als zwei Jahre vor dem Anschlag. Etwas über zwei Jahre nach dem Anschlag, Anfang 1991, habe Fhimah ihm erklärt, die Amerikaner hätten 1986 Tripolis bombardiert, aber: „Sie wogen nicht die Möglichkeit einer Gegenreaktion ab.” Während einer Verhandlungspause unterhält Alistair Duff, einer der Anwälte Megrahis, sich mit der Schöpferin der Internet-Seite safsaf/trialnews. Um Giakas Lippen, sagt er, spiele immer so ein Lächeln. Er wirke „hochnäsig, arrogant und frech. Wir haben den Verdacht, die CIA hat ihn intensiv für die Vernehmung gedrillt.” Die Taktik der Verteidigung laufe jetzt darauf hinaus, „ihn in Rage zu bringen, damit er etwas sagt, was er nicht sagen soll”. Megrahis und Fhimahs Anwälte haben die Einschaltung der alten und neuen Medien zur Kunstform entwickelt. Sie streuen Hinweise, schaffen Irritationen und legen Fährten, meistens ohne sich damit direkt zu identifizieren. Ein geschicktes Verwirrspiel. Journalisten verbreiten die Annahmen und Unterstellungen dann als Tatsachen. Vor allem über autoritativ wirkende Internet-Seiten finden sie ihren Weg in die etablierten Medien. Wenn es der Verteidigung gelingen sollte, „hinreichende Zweifel an der Schuld der Angeklagten zu wecken”, wie es im Vokabular der Juristen heißt, müssen ihre Mandanten freigesprochen werden. Unterhält man sich mit den Schöpfern mancher dieser Internet-Seiten, bekommt man die unwahrscheinlichsten und abenteuerlichsten Geschichten zu hören. Sie behaupten, sich auf hoch gestellte „Quellen” in so gut wie sämtlichen Ländern der westlichen und arabischen Welt zu stützen - aber geben diese „Geheiminformationen” mit einer Freizügigkeit preis, die starken Zweifel an der Seriosität der Quellen und ihrer Künder aufkommen lässt. Duffs Kollege Bill Taylor, ein feister, großrahmiger Anwalt mit einem goldenen Ring am kleinen Finger der rechten Hand und rüden Umgangsformen, macht sich an die Demontage des Zeugen. „Giaka”, herrscht er ihn barsch an. „Stimmen Sie mit mir überein, dass ein Lügner ein gutes Gedächtnis braucht?” Oder: „Jetzt bin ich Ihnen auf die Schliche gekommen!” Und: „Sie haben sich Ihre Täuschungsmanöver sorgfältig ausgedacht, nicht wahr, Giaka?” Ein Besucher glaubt die Angst des Zeugen sogar in der Stimme des Übersetzers durchhören zu können. Taylor führt Giaka als Hochstapler vor, der den Agenten der CIA für Geld und das Versprechen einer neuen Existenz in den Vereinigten Staaten fadenscheinige Beweise und faule Lügen auftischte. Die CIA habe ihm selbst nicht recht getraut und wiederholt gedroht, sein Gehalt zu stornieren. Um das zu verhindern, habe Giaka immer neue Informationen erfunden. Sogar die Behauptungen, dass sowohl Guido de Marco, damals stellvertretender Ministerpräsident und heute Präsident Maltas, als auch der libysche Staatschef Ghaddafi Freimaurer seien. Schwer zu sagen, ob oder wie weit die vier Richter sich durch die bühnenreife Vorstellung des Verteidigers beeindrucken lassen. Sie sind alte Hasen. Ein Richterkollege charakterisierte den Vorsitzenden Lord Sutherland einmal als „kultiviert, kurz angebunden, mit einer Vorliebe für Gin und einem Verstand, der so scharf ist, wie seine Manieren gewandt sind”. Er ist der dienstälteste Richter Schottlands. Lord Coulsfield und Lord MacLean waren in ihrer Jugend Stipendiaten derselben Eliteschule. Der eine graduierte in Oxford und Edinburgh in englischem und in schottischem Recht, der andere in Cambridge, in Edinburgh und obendrein in Yale in amerikanischem Recht. Lord Abernethy, auch er einer der ranghöchsten Richter des Landes, ist als Ersatzmann dabei, falls einer aus dem Dreierquorum durch Krankheit oder Tod ausfällt. Die vier führen während des Verfahrens ein fast mönchisch von der Außenwelt abgeschirmtes Dasein. Sie wohnen in einem für sich gelegenen Hotel in einem Villenvorort von Utrecht. Polizisten fahren sie in zwei Kleinbussen zum Gericht und wieder nach Hause. Sie essen in einem für sie reservierten Zimmer zu Abend. Wenn sie sich während des Verfahrens beraten, sehen sie in ihren weißen, mit roten Kreuzen besetzten Roben und mit ihren Perückenköpfen aus wie ein mediävales Konzil. Kaum war die Demontage Giakas überstanden, kam der nächste Frontalangriff der Verteidigung. Sie stellt den Antrag, einen Terminkalender Fhimahs als Beweisstück nicht zuzulassen. Ein schottischer Kriminalbeamter hatte das Büchlein ohne Durchsuchungsbefehl aus einem Büro in Malta mitgenommen. Es enthält zwei inkriminierende Einträge, eine später mit „okay” abgezeichnete Erinnerungsstütze, Gepäckanhänger der Air Malta zu besorgen, und eine Notiz über Megrahis Eintreffen. Die Richter sitzen in der Zwickmühle. Im schottischen Schwurgericht bestimmen Richter über Rechtsfragen, die Geschworenen entscheiden über Schuld und Unschuld. Im Lockerbie-Prozess fungieren die Richter gleichzeitig als Geschworene. Das bedeutet, sie dürfen, streng genommen, wie Geschworene nur wissen, was im Gericht zur Sprache kommt. Bei der Entscheidung von Rechtsfragen angestellte Erwägungen müssen sie in ihrer Geschworenenfunktion ausklammern. Um sich aus der Zwickmühle zu befreien, führen die Richter - nun als Richter ohne Wenn und Aber - einen Prozess im Prozess. „Wir setzen jetzt unsere Geschworenenhüte ab und unsere Richterhüte auf”, erklärt Lord Sutherland. Jeder, den man spricht, ist von der Unparteilichkeit und von der Prozessführung des 67-jährigen Sutherland schwer beeindruckt. Sogar der diplomatische Beobachter Libyens. Und Jim Swire. Swire ist in Großbritannien schon fast eine nationale Institution. Der englische Arzt verlor bei dem Bombenattentat auf die Maid of the Seas seine Tochter Flora. Seither wurde die Aufklärung des Verbrechens für ihn zur Lebensaufgabe, zum einzigen und eigentlichen Zweck seines Daseins. Er verlor darüber seinen Anteil an einer Arztpraxis und einen gut Teil seiner Altersvorsorge. Jeden Tag sitzt er im Gericht. Eine hagere, fast ausgezehrte Figur in einer abgetragenen Tweedjacke. Schlohweißes Haar, Lesebrille auf der Nase. Swires Leid verleiht ihm eine Aura moralischer Autorität. Als jemand behauptet, die Vernehmung des Starzeugen Giaka sei „ein schlechter Tag” für ihn gewesen, gibt er knapp zurück: „Für uns gibt es keine guten und keine schlechten Tage. Für uns zählt nur die Wahrheit.” Jim Swire ist zufrieden mit dem Prozess. Der Richter Sutherland sei „exzellent” und auch der Anwalt der Verteidigung, Taylor, „brillant”. Und dennoch will sich Klarheit nicht einstellen. Im Gegenteil: Der Fall wird immer mysteriöser. Verschwörungstheorien, die ein halbes Jahr durch die detaillierte juristische Aufarbeitung unter Kontrolle gehalten worden waren, breiten sich wie die Metastasen eines Krebsgeschwürs wieder aus. Sie ergreifen erst einen, dann einen anderen Teil des Verfahrens - und drohen es zu überwältigen. Schließlich stellt der Staatsanwalt einen Antrag auf Vertagung um eine Woche. „Ich erhielt letzten Donnerstag neue Informationen, die für die weitere Beweisführung von Bedeutung sind. Die Informationen sind komplex und höchst heikler Natur. Im Augenblick kann ich keine weiteren Details bekannt geben.” Eine Woche später stellt die Verteidigung einen ähnlichen Antrag. Taylor erklärt, Menschenleben stünden auf dem Spiel, er müsse sich in dem, was er sage, auf „chinesisches Flüstern” beschränken. Lord Sutherland gibt auch diesem Antrag statt, obwohl „wir völlig im Dunklen stochern. Sollte sich Ähnliches nächste Woche wiederholen, wünschen wir Genaueres zu hören.” In der dritten Oktoberwoche der dritte Vertagungsantrag. Sutherland stellt in seiner ironischen Art fest, das Verfahren komme „ziemlich langsam voran”. Das ist euphemistisch formuliert. Denn es herrscht totaler Stillstand. Statt freitagabends sitzen die Richter jetzt schon dienstagabends wieder im Flugzeug von Amsterdam nach Edinburgh. Kollegen und Freunde mokieren sich über die „Ein-Tag-Woche”. In der letzten Oktoberwoche dann begründet Taylor den Richtern einen weiteren Vertagungsantrag damit, dass libysche Kollegen Kontakte zu einem arabischen Land hergestellt hätten, um neues Beweismaterial zu sichern. Nachforschungen in einem europäischen Land, das bislang nicht mit Lockerbie in Zusammenhang gebracht worden ist, seien im Gange. Ein serbokroatischer Übersetzer sei eingeschaltet worden. Die neuen Informationen stellten einen Zusammenhang zwischen deutschen Geheimdiensten und der Volksfront für die Befreiung Palästinas - Generalkommando (PFLP-GC) her. Die Verteidigung erhebt schon seit Prozessbeginn in einer besonderen Verfahrensprozedur Gegenanklage gegen die Palästinenser. Es schlägt die Stunde der Verschwörungstheoretiker. Jetzt komme alles ans Tageslicht. Die Staatsanwaltschaft habe wider besseres Wissen und gegen ihr Gewissen allein auf Druck der Vereinigten Staaten an der Anklage gegen die Libyer festgehalten. Wohl um keinen Prozess haben sich je so viele Verschwörungstheorien gerankt. Von den fünf Oberstaatsanwälten, die in 12 Jahren mit dem Fall Lockerbie beschäftigt waren, munkelt man von einem, er sei überzeugt, die Anklage werde in sich zusammenbrechen, aber er würde gegen jede Veröffentlichung seiner Ansichten gerichtlich vorgehen. Von einem zweiten geht die Fama, auch er glaube nicht an einen Erfolg des Verfahrens, aber er sei vom britischen Außenminister angewiesen worden, den Prozess durchzupauken. Worauf er seinen Posten räumte, da er, angeblich ein wörtliches Zitat, „nicht der Letzte sein wollte, wenn die Musik zu spielen aufhört”. Auf Malta laufen die Fäden der Geschichte zusammen In der PFLP-GC und der mit ihr lose verbundenen Palestinian Popular Struggle Front (PPSF) - einer wenig bekannten Splittergruppe, die heute mit Jassir Arafats Fatah kooperiert - vermuteten die Ermittler zu Beginn der Fahndung tatsächlich die Hauptverdächtigen. Die beiden Gruppen begingen in den achtziger Jahren stellvertretend für Syrien und Iran Terroranschläge auf amerikanische und israelische Ziele. Das Pan-Am-Attentat soll ein Racheakt für den Abschuss eines iranischen Airbus durch ein amerikanisches Kriegsschiff im Golf 1988 gewesen sein. 270 Menschen wurden damals getötet. Die Vereinigten Staaten nahmen dieser Theorie zufolge kurzerhand Libyen aufs Korn, als sie die Unterstützung Syriens (man führte 1991 den Golfkrieg) gegen den Irak benötigten. Der amerikanische Generalstaatsanwalt habe Druck auf seinen schottischen Kollegen ausgeübt, mitzuziehen. Ein Mann namens Abu Talb, der wegen Anschlägen auf amerikanische und jüdische Einrichtungen in Skandinavien eine lebenslängliche Haftstrafe absitzt, gilt den Vertretern dieser These als der Hauptverdächtige. Die schwedische Polizei fand in seiner Wohnung einen Terminkalender, in dem der 21. Dezember 1988 - der letzte Tag der Maid of the Seas-Passagiere - umkringelt war. Vincent Cannistraro, der anfänglich die Ermittlungen der CIA leitete, erklärte der AP, die eine Theorie müsse keineswegs im Widerspruch zur anderen stehen. Er glaube, die Palästinenser hätten die Bombardierung ursprünglich geplant, sie dann aber den Libyern angetragen, als ihre Vorbereitungen durch Razzien in Deutschland kompromittiert wurden. Auch Abu Talb war in den Wochen vor dem Anschlag mehrmals auf Malta. Malta ist der Nabel in dieser Geschichte. Die Mittelmeerinsel ist der Punkt, an dem viele Fäden geheimdienstlicher Intrigen und verdeckter Manöver zusammenlaufen. Hier leben Dissidenten und Flüchtlinge, hier finden Treffen statt, die durch Handelsblockaden und Einreisesperren anderswo verhindert werden. Malta war für Westeuropäer und Amerikaner jahrelang das Tor zu Libyen. Malta ist eine engmaschige Klatschgesellschaft. Es kann passieren, dass man sich zufällig mit einem Freund des maltesischen Präsidenten unterhält, der ohne Zögern die Handynummer des Staatsoberhauptes herausgibt. Probiert man die Nummer aus, meldet sich tatsächlich de Marco persönlich. Er scheint sich nicht zu wundern, dass ein fremder Reporter am Apparat ist. Joe Mifsud ist Leiter der Abteilung Sonderaufgaben des maltesischen Fernsehkanals Super One und ein Verschwörungstheoretiker der Sonderklasse. Für ihn ist die Anklage im Lockerbie-Prozess vor allem ein Affront gegen das maltesische Volk. Die Sicherheitsvorkehrungen in Luqa, behauptet er, seien viel strenger gewesen als die in Frankfurt oder London. Für unbegleitetes Gepäck habe es keinerlei Durchkommen gegeben. „Nur weil wir ein kleines Land sind, macht man uns nun zum Sündenbock für die Fahrlässigkeit auf anderen Flughäfen.” Mifsud kannte auch den Angeklagten Fhimah persönlich. Fhimah, sagt er, sei ein „charmanter, freundlicher Herr, der sich mit seinen Nachbarn gut verstand”. Doch er sei in einem solchen Dauerzustand der Zerstreuung, dass der Sprengstoff, sollte er ihn denn gehabt haben, höchstwahrscheinlich in seinen eigenen Händen explodiert wäre. Oder er hätte den Schlüssel zu der Schublade verlegt, in der der Sprengstoff lagerte. „So ein Typ ist der.” Mifsud glaubt nur an den Wahrheitsgehalt einer Aussage im Anekdotengewimmel des Starzeugen Giaka: dass Fhimah einen weiblichen Fluggast sexuell belästigt habe. Ein Schürzenjäger sei der Fhimah schon. Aber das sei nicht strafbar. Der Zeuge Giaka dagegen sei während seiner Zeit auf Malta in üblem Ruf gestanden, obwohl er eine maltesische Frau heiratete. „Er war undurchsichtig und launisch, ein geiziger und wenig vertrauenswürdiger Charakter.” Er habe auf Malta lebende Landsleute ausspioniert und über sie in der Heimat Bericht erstattet: „Wenn Giaka in den Raum kam, wechselten die Leute das Gesprächsthema.” Viele Spuren sind verwischt. Nichts ist, wie es einmal war. Das alte Flughafengebäude ist jetzt ein Fracht-Terminal. Das Country Hotel, in dem Giaka wohnte und um das sich eine Auseinandersetzung zwischen ihm und dem Verteidigungsanwalt entspann, gehört heute zu den Wasserwerken. Auch das Büro, in dem die schottische Polizei den umstrittenen Terminkalender beschlagnahmte, gibt es nicht mehr. Manche Verschwörungstheoretiker behaupten, Agenten der CIA seien am Tag zuvor in das Büro eingebrochen und hätten den Kriminalbeamten einen Wink gegeben. Vor Gericht stritten die Schotten solche Machenschaften ab. Unter Eid. „Warten Sie doch, ich weiß, wer es getan hat. Ich weiß es genau!” Allein Mary's House in Sliema ist unverändert. In den Schaufenstern liegen Polyesterhemden, ein Panamahut, Damenunterwäsche, Strampelhosen. Alles ein bisschen grau und verstaubt. Und sehr preiswert. Der Inhaber des Geschäfts heißt Tony Gauci. Kauft man eine Krawatte mit Malteserkreuzmuster für 1,75 Lire, stellt er eine Steuerquittung für 1,50 Lire aus. „Das ist also der berühmte Laden, in dem der Lockerbie-Attentäter einkaufte?” Gaucis Gesicht versteinert. „Könnte sein”, sagt er. „Könnte sein”, sagte er auch Ermittlern, als sie ihm ein Foto Megrahis vorlegten. Und „Könnte sein” war auch sein Kommentar, als er ein Bild Abu Talbs sah. Wilfred Borge war zur Zeit des Attentats leitender Manager der Air Malta. Vor dem Gericht in Holland sagte er aus, es sei so gut wie unmöglich gewesen, einen unbegleiteten Koffer im Flughafen Luqa aufzugeben. Was meint er mit „so gut wie”? „Höchst unwahrscheinlich.” „Wie unwahrscheinlich?” „Theoretisch ist alles möglich. Theoretisch können Sie auch Fort Knox ausrauben. Aber nur, wenn Sie Kollaborateure haben. Vor Gericht wurde nie behauptet, dass es Kollaboration gab.” Der maltesischen Regierung war es lieber, den Fall nicht durch heimische Gerichte zu ziehen. Die Versicherung Lloyd's of London reichte durch einen Rechtsanwalt in Valetta einen vorläufigen Bescheid ein, demzufolge sie Air Malta und die Regierung wegen sträflicher Vernachlässigung der Sicherheitsvorkehrungen auf 32 Millionen Pfund Schadenersatz für den Verlust der Maid of the Seas verklagen wolle. Die maltesische Regierung reagierte mit einer Gesetzesänderung, die eine Frist für eine formelle Klageführung festsetzte. Der Anwalt plädierte in der höchsten Berufungsinstanz vergeblich dafür, das Ergebnis des Verfahrens in Holland abzuwarten. Die Frist lief am 28. Juli dieses Jahres ab. Zurück nach Zeist. Anfang November lässt die Verteidigung durchsickern, der Schlüssel zur Aufklärung des Verbrechens liege in Deutschland. Die Bundesregierung hintertreibe die Ermittlungen. Sie verweigere den Anwälten Fhimahs und Megrahis die Genehmigung, Beamte des Bundeskriminalamtes zu verhören. Auch die deutschen Geheimdienste kooperierten nicht mit der Staatsanwaltschaft. Der Grund, heißt es in der Gerüchteküche, seien zwei Palästinenser, die, obwohl als Bombenbauer schwer inkriminiert, als Informanten unter staatlichem Schutz stünden. Auch heißt es, die Deutschen glaubten ihrerseits, ihre britischen und amerikanischen Kollegen hätten die Ermittlungen vergeigt. Ein hoher Beamter des BKA soll überzeugt sein, der wahre Grund für das Attentat sei „bei der CIA und im Drogenhandel” zu finden. Die Amerikaner ließen dieser - heftig dementierten - Version zufolge Drogensendungen aus dem Libanon im Austausch gegen Informationen über Geiseln durchschlüpfen. Die Terroristen sollen die Bombe in eine dieser Sendungen hineingeschmuggelt haben. Danach führt die Staatsanwaltschaft den von der Verteidigung beschuldigten Abu Talb vor. Talb ist als Zeuge der Anklage immun gegen Strafverfolgung. Er erzählt dem Gericht, seine Halbschwester Dala el Maghrebi sei von dem jetzigen Ministerpräsidenten Israels, Ehud Barak, in Tel Aviv erschossen worden, als er einst Soldat war. Eine andere Halbschwester wurde 1978 in London wegen eines Anschlags auf den Botschafter des Irans zu Gefängnis verurteilt. Einer seiner Schwäger war PLO-Mitglied und enger Vertrauter Arafats. Er bestätigte seine Verbindungen zur PPSF und zur PFLP-GC. Doch 1983 sei er nach Schweden emigriert, „um ein normales Leben zu führen”. Mit Lockerbie habe er nicht das Geringste zu tun. Er sei auf Malta gewesen, um einen Freund, einen Bäcker, zu besuchen. Am Tag des Attentats, sagt er, hütete er seine Kinder. Als Erster nimmt der bullige Verteidigungsanwalt Bill Taylor den Zeugen in gewohnt rüder Manier auseinander. Ihm zufolge lernte Abu Talbs Schwager 1985 in Syrien das Bombenbauen, reiste dann mit seiner Familie und vier Zeitzündern im Gepäck nebst 5000 Dollar sowie Instruktionen für Abu Talb nach Schweden. Er habe die Sprengsätze im Badezimmer seiner Wohnung in Uppsala zusammengebaut. Abu Talb gibt nur zu, er halte die Vereinigten Staaten für den Hauptverbündeten Israels und es sei die Pflicht jedes Palästinensers, für die Gründung eines palästinensischen Staates zu kämpfen. Alle anderen Behauptungen streitet er ab. Als Nächster macht sich Fhimahs Anwalt Richard Keen ans Werk. Keen strahlt undurchdringliche, erschreckend kalte Selbstkontrolle aus. Wenn er den Zeugen einen „Mörder” und einen „Lügner” nennt, schneidet das wie ein Skalpell. Erst will Abu Talb seine Beteiligung an einem Bombenattentat auf eine Synagoge in Kopenhagen, für die er im Gefängnis sitzt, nicht zugeben. Schließlich gesteht er ein: „Ich war nicht unschuldig.” Wer ordnete den Anschlag an? „Ich kenne die Person nicht.” – „Wenn jemand Ihnen aufgetragen hätte, an der Bombardierung des amerikanischen Jumbojets teilzunehmen, dann würden Sie uns auch nicht sagen, um wen es sich handelte, nicht wahr?” – „Wenn ich etwas darüber wüsste, mein Herr”, erwidert Abu Talb, „hätte ich das dem Gericht gesagt.” Die Anklage präsentiert als ihren letzten Zeugen eine ähnlich schillernde Figur aus einer ganz anderen Ecke. Pierre Salinger war Pressesekretär John F. Kennedys, später London-Korrespondent der amerikanischen Fernsehstation ABC und ist Mitautor einer von Ghaddafi herausgegebenen Novellen-Sammlung. Er behauptet, jedes Detail des Verbrechens zu kennen. Die Angeklagten sind ihm zufolge unschuldig. Im November 1991 nahm er ein Interview mit Megrahi und Fhimah auf, in dem sie bestritten, für den libyschen Geheimdienst gearbeitet zu haben. Beide beteuerten ihre Unschuld. Das Interview war vom libyschen Außenministerium arrangiert und von Ghaddafi abgesegnet worden. Nach seiner Vernehmung ruft Salinger erregt: „War das alles? Geben Sie mir keine Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen? Warten Sie doch, ich weiß, wer es getan hat! Ich weiß genau, wer es getan hat!” Lord Sutherland wird deutlich: „Wenn Sie ihre Meinungen kundtun möchten, können Sie das anderswo tun. Ich fürchte, das Gericht ist nicht der geeignete Ort dafür.” Am Dienstag vergangener Woche beantragte Fhimahs Anwalt für seinen Mandanten einen umgehenden Freispruch. Die Beweisführung gegen ihn stehe auf so wackligen Füßen, dass eine Gegenpräsentation gar nicht notwendig sei. Die Richter wiesen den Antrag zurück. Der Prozess geht weiter. Nun machen sich die Verteidiger an den Nachweis der Unschuld ihrer Mandanten. Das mag Wochen dauern, vielleicht Monate. Zuletzt werden die Richter ihre Geschworenenhüte aufsetzen und eine Entscheidung treffen. Aber immer weniger Menschen glauben, dass diese Entscheidung, wie auch immer sie ausfällt, die ganze Wahrheit zutage fördern wird. Ein unentwegter Prozessbeobachter macht sich bereits Hoffnungen, dass „hinterher eine Untersuchungskommission eingesetzt wird”. http://www.zeit.de/2000/50/200050_lockerbie.2.xml |
|||