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Vermeer V
(Thich Quang Duc)
2009

 
Vermeer V (Thich Quang Duc)

Walter Stach

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Andrea Spalinger
Dutzende von Tibetern haben sich auf spektakuläre Weise das Leben genommen
NEUE ZÜRCHER ZEITUNG
19.05.2012

 

Nach einer mehrwöchigen, abenteuerlichen Reise über hohe Gebirgspässe und auf sich alleine gestellt ist dieses neunjährige tibetische Mädchen kürzlich im Auffangzentrum von Dharamsala angekommen.(Bild: Sumit Dayal / Prospekt)
Nach einer mehrwöchigen, abenteuerlichen
Reise über hohe Gebirgspässe und auf sich
alleine gestellt ist dieses neunjährige tibetische
Mädchen kürzlich im Auffangzentrum von
Dharamsala angekommen.
(Bild: Sumit Dayal / Prospekt)

Seit den Unruhen 2008 hat China den Druck auf die tibetische Minderheit stark erhöht. Über die eigene Machtlosigkeit verzweifelt und frustriert, haben sich in den letzten Monaten Dutzende von jungen Tibetern und Tibeterinnen selbst angezündet.

Das Auffangzentrum für tibetische Flüchtlinge in Dharamsala wirkt wie ausgestorben. Eine Gruppe junger Männer hört im Gemeinschaftsraum Radio. Ein paar Kinder rennen über die Wiesen zwischen den Wohnhäusern. In dem am Fusse des idyllischen indischen Bergstädtchens gelegenen Zentrum finden Tibeter nach einer beschwerlichen Flucht aus der Heimat erst einmal Unterschlupf, bevor sie auf verschiedene tibetische Gemeinden in Indien verteilt werden. Insgesamt könnten in dem Gebäudekomplex 500 Personen untergebracht werden, derzeit wohnen hier aber nur gerade 39 Männer, Frauen und Kinder.

Erschwerte Flucht

Das von den USA finanzierte neue Auffangzentrum war gebaut worden, um dem wachsenden Ansturm von Flüchtlingen gerecht zu werden. Seit seiner Eröffnung 2011 steht es jedoch weitgehend leer. Seit in den von China kontrollierten tibetischen Gebieten kurz vor den Olympischen Spielen in Peking im Frühjahr 2008 Unruhen ausbrachen, hat das Regime den Druck auf die ethnische Minderheit erhöht, und die Flucht ins Ausland ist ein heikles Unterfangen geworden. Die meisten Tibeter fliehen über den Himalaja nach Nepal und reisen von dort nach Indien weiter, wo ihr geistiges Oberhaupt, der Dalai Lama, lebt und wo ihnen seit Jahrzehnten unbürokratisch Aufnahme gewährt wird. Auf Druck Chinas hat Nepal die Kontrollen an der Grenze aber verschärft und seine konziliante Haltung gegenüber den Tibetern revidiert. Kamen vor 2008 über 3000 Flüchtlinge jährlich nach Dharamsala, sind es heute nur noch rund 500.

Das Risiko, auf der Flucht geschnappt, nach China deportiert und dort ins Gefängnis geworfen zu werden, sei mittlerweile sehr gross, erzählen Neuankömmlinge in dem Zentrum. Und mit der Gefahr seien auch die Kosten der Flucht gestiegen. Während es früher möglich gewesen sei, den tagelangen Fussmarsch über die Berge im Grenzgebiet auf eigene Faust zu schaffen, müssten heute Schlepper bezahlt werden, um Kontrollposten zu umgehen.

Rinchen* ist einer der wenigen Glücklichen, denen die Flucht trotz allem gelungen ist. Der 23-Jährige ist seit einer Woche in Dharamsala. Seine Reise in die Freiheit habe Monate gedauert, berichtet er. Bereits im Dezember habe er sein Dorf in der chinesischen Provinz Gansu verlassen. Er musste für die Flucht über 3000 Dollar bezahlen. Seine Familie sei bitterarm und habe sich verschuldet, um das Geld aufzubringen, sagt der junge Mann.

NZZ /tcf.
(Bild: NZZ /tcf.)

Düstere Perspektiven

Rinchens Angehörige waren wie viele in Tibet Nomaden und besassen ein paar Dutzend Yaks. Im Zuge eines breit angelegten staatlichen Programms wurden sie vor ein paar Jahren aber zwangsangesiedelt. Das der Familie zugeteilte Land war viel zu klein, als dass der Vater und die beiden Söhne darauf hätten arbeiten können, und so verdingte sich Rinchen eine Zeitlang als Tagelöhner. Er habe die Grundschule besucht, sagt der aufgeweckte junge Mann. Doch an den staatlichen Schulen werde nur in Chinesisch unterrichtet, und die Kinder lernten rein gar nichts über die Kultur und die Geschichte Tibets. Selbst wenn man gute Noten nach Hause bringe, habe man als Tibeter zudem kaum eine Chance, nach der Schule Arbeit zu finden. Gute Jobs bekämen nur die in den letzten Jahren in der Region massenhaft angesiedelten Chinesen. Sein Vater habe deshalb entschieden, ihn nach Indien zu schicken.

Viele der tibetischen Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche. Im Tibetan Children's Village oberhalb von Dharamsala gehen derzeit 1800 Kinder zwischen 6 und 18 Jahren zur Schule. Die meisten von ihnen bleiben nach der Ausbildung in Indien und sehen ihre Familien nie wieder. Der 23-jährige Rinchen ist für das Children's Village bereits zu alt, doch hat er gute Chancen, in eine der Mittelschulen für tibetische Flüchtlinge aufgenommen zu werden. Er wolle fleissig lernen und sein Wissen später einmal dazu einsetzen, dem tibetischen Volk zu helfen, erklärt er scheu.

Diskriminierung und Gewalt

China hatte Tibet 1950 besetzt und 1965 das Autonome Gebiet Tibet als Verwaltungseinheit der Volksrepublik China geschaffen. Es umfasst nur etwa die Hälfte des tibetischen Kulturraumes. Die restlichen Gebiete sind Teil der chinesischen Provinzen Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan. 1959 kam es zu einem ersten Aufstand der Tibeter, der von China blutig niedergeschlagen wurde. Der Dalai Lama musste mit Tausenden von Anhängern nach Indien flüchten. Ende der achtziger Jahre brachen erneut Aufstände aus, und zuletzt kam es 2008 zu grösseren Unruhen.

Die Lage in den tibetischen Gebieten sei heute so prekär wie nie zuvor, berichten Flüchtlinge. Laut Menschenrechtsorganisationen wurden 2008 über hundert Demonstranten getötet und Tausende von Mönchen, Nonnen und Laien verhaftet. Die Repression hat seither kaum nachgelassen. Die Volksarmee sei noch immer allgegenwärtig, berichtet Yeshi*, ein junger Flüchtling aus Ngaba in Sichuan. Selbst in abgelegenen Dörfern hätten die Sicherheitskräfte Schulen und andere öffentlichen Gebäude besetzt. Tibeter würden diskriminiert und schikaniert, sagt der 18-Jährige. Im letzten Jahr sei er mit ein paar Freunden auf der Strasse grundlos aufgegriffen und eine Nacht lang von Polizisten geschlagen und getreten worden. Früher habe er sich nicht für Politik interessiert, doch unter solchen Umständen werde jeder zum Nationalisten.

Tamding Tsering, der 1990 aus Tibet flüchten musste und für die Exilregierung in Dharamsala arbeitet, verfolgt die Entwicklungen in der Heimat seit Jahrzehnten. Er musste seine Frau und seine fünf Kinder zurücklassen und konnte diese sporadisch kontaktieren. In den letzten 15 Jahren sei der Lebensstandard in Tibet deutlich gestiegen, sagt der 61-Jährige. Die Menschenrechtslage habe sich im selben Zeitraum jedoch verschlechtert. Früher hätten die Tibeter noch mehr Freiheiten genossen. In den letzten zehn Jahren habe China die tibetische Kultur, Sprache und Religion aber systematisch zu zerstören begonnen. Nach 2008 sei die staatliche Kontrolle über Klöster ausgeweitet und seien regimekritische Mönche massenweise verhaftet und in Umerziehungslager gesteckt worden. Viele seien dabei unter anderem auch gezwungen worden, sich vom Dalai Lama loszusagen.

Das geistige Oberhaupt der Tibeter ist in Dharamsala allgegenwärtig. In jedem tibetischen Haus, Büro, Geschäft und Restaurant lächelt der 76-Jährige von den Wänden. In den von China kontrollierten Gebieten sei es nicht erlaubt, Bilder «Seiner Heiligkeit» (wie der Dalai Lama von den Tibetern genannt wird) aufzuhängen, sagt Rinchen. Doch jeder habe zu Hause irgendwo ein Bild von diesem versteckt, fügt er schmunzelnd hinzu. Alle Neuankömmlinge werden nach ihrer Ankunft in Dharamsala vom Dalai Lama persönlich zu einer Audienz empfangen. Rinchen sagt, es sei ein überwältigendes Erlebnis gewesen, diesen zu treffen. Es habe ihn aber auch sehr traurig gestimmt, dass den meisten Tibetern diese Erfahrung ein Leben lang verwehrt bleibe.

Was bedeutet Freiheit?

Die Rückkehr des Dalai Lama ist eine der zwei Hauptforderungen der Tibeter. Die andere ist Freiheit. Doch an der Frage, was Freiheit genau heisst, scheiden sich die Geister. Für die einen bedeutet sie mehr Autonomie innerhalb Chinas, für die anderen Unabhängigkeit. Der Dalai Lama verfolgt seit Jahrzehnten eine Politik des «Mittelweges», die auf eine einvernehmliche Lösung mit China abzielt. Anstatt auf seine moderaten Forderungen einzugehen, verunglimpfen die Chinesen den Dalai Lama und seine «Clique» jedoch regelmässig als Staatsfeind und Terroristen. Kürzlich wurde er auf einer staatlichen Website gar als Nazi beschimpft, dessen Politik dem Holocaust Hitlers gleichkomme.

Die mangelnde Kompromissbereitschaft auf chinesischer Seite, die zunehmende Repression und der Versuch Chinas, die Tibeter auf internationalem Parkett zu isolieren, hat zu einer Radikalisierung in den Reihen der Exiltibeter geführt. Viele sehen den Sinn des gemässigten Kurses nicht mehr ein. «Der Mittelweg hat uns in fünfzig Jahren nichts gebracht», sagt Tenzin Chokey, Generalsekretärin des Tibetan Youth Congress in Dharamsala. «Für einen Dialog braucht es zwei Parteien. Doch China hat rein gar kein Interesse daran. Wir sollten uns deshalb auf den Kampf für die Unabhängigkeit konzentrieren.»

Auch in Tibet scheint diese härtere Linie an Unterstützung zu gewinnen. Die Neuankömmlinge im Auffangzentrum berichten übereinstimmend, dass eine Mehrheit der Tibeter heute einen eigenen Staat wolle. «Das politische Bewusstsein ist seit 2008 gewachsen», sagt die 40-jährige Dolma*, die mit ihrer kleinen Tochter aus Lhasa geflüchtet ist. «Die meisten Tibeter wollen mit den Chinesen nichts mehr zu tun haben.»

Da die Tibeter den Dalai Lama hoch verehren, tun sie sich schwer damit, seine Politik öffentlich zu kritisieren. Die Zeichen des Unmuts häufen sich allerdings. Eines der dramatischsten ist die wachsende Zahl von Selbstverbrennungen. Seit März letzten Jahres haben sich 34 junge Tibeter und Tibeterinnen selbst angezündet. 25 von ihnen sind an den Verbrennungen gestorben. Die grosse Mehrheit der Personen, die Suizid begehen, stammte aus der Stadt Ngaba (chinesisch Aba) in der Provinz Sichuan. Viele waren Mönche aus dem lokalen Kirti-Kloster. Ngaba war einer der Unruheherde 2008 gewesen, und die Armee hatte in der Stadt ungewöhnlich hart durchgegriffen.

Märtyrer und Volkshelden

Obwohl das Internet und das Mobilfunknetz in der Region um Ngaba seit 2008 über weite Strecken ausgeschaltet waren, gelangt regelmässig Beweismaterial über die Eskalation dort an die Öffentlichkeit. Ein mit einem Mobiltelefon aufgezeichnetes Video, das vor kurzem publik wurde, zeigt die Selbstverbrennung des 22-jährigen Lopsang Jamyang. Der junge Nomade hatte sich im Januar vor dem Kirti-Kloster mit Benzin übergossen und angezündet.

Auf dem Video ist zu sehen, wie Lopsang lichterloh brennend über den Platz vor dem Kloster rennt und nach Freiheit für Tibet schreit. Die herbeigeeilten Polizisten schlagen mit Stöcken auf den jungen Mann ein und machen keinerlei Anstalten, das Feuer zu löschen. Ein Freund von Lopsang, der den Vorfall beobachtete, hat berichtet, dass dieser noch lebend in einem Polizeiauto weggefahren worden sei. Im Spital ist er jedoch nie aufgetaucht, weil die Behörden offenbar Unruhen befürchteten. Nach offiziellen Angaben erlag der junge Mann zwei Tage später seinen Verbrennungen. Die Familie hat den Leichnam nie zu Gesicht bekommen. Ihr wurde nur eine Urne überreicht.

Tashi*, ein enger Freund des Verstorbenen, der seit zwei Jahren in Dharamsala studiert, erzählt, Lopsang Jamyang sei über das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte 2008 schockiert gewesen und damals zum Aktivisten geworden. «Ich bin sehr traurig über seinen Tod, aber auch unheimlich stolz auf ihn», sagt der 21-Jährige. Helden wie Lopsang zeigten den Tibetern, dass es Möglichkeiten gebe, sich aufzulehnen.

Die jungen Tibeter, die zu solch drastischen Massnahmen gegriffen haben, werden in Dharamsala als Märtyrer verehrt. Überall in dem Bergstädtchen hängen Poster zu ihren Ehren. An diesem Nachmittag sind zwei neue Selbstverbrennungen bekanntgeworden, und kurz nach Sonnenuntergang steht das Bergstädtchen für kurze Zeit still. In den engen Gässchen stehen Mönche in dunkelroten Roben betend neben Geschäftsleuten und Touristen mit Kerzen in den Händen. Der Buddhismus verbiete Gewalt gegen andere und sich selbst, gesteht ein älterer Mönch ein, der zur Mahnwache für die Opfer gekommen ist. Diese hätten sich aber nicht aus egoistischen Gründen umgebracht, sondern aus Liebe für ihr Volk, und Selbstaufopferung für eine höhere Sache habe im Buddhismus Tradition.

Auf politischer Seite herrscht etwas mehr Unbehagen über die Selbstverbrennungen. Zum einen haben diese international viel Aufmerksamkeit erregt und sind deshalb nicht unwillkommen. Zum anderen sind sie aber auch ein Beweis für das Scheitern der Politik und kommen für die im letzten Jahr ernannte neue Exilregierung unter Lobsang Sangay eher ungelegen.

Politische Sackgasse

Die sogenannte Central Tibetan Administration hat die Taten deshalb weder explizit gutheissen noch verurteilt. Die «Aussenministerin» Dicki Chhoyang sagt, für die Selbstverbrennungen sei allein China mit seiner repressiven Politik verantwortlich. Chhoyang gesteht allerdings ein, dass die Suizide für ihre Regierung eine Herausforderung darstellten. Die junge Generation in Tibet sei offenbar frustriert und habe deutlich gemacht, dass es so nicht weitergehen könne. Dennoch will Chhoyang am eingeschlagenen Kurs festhalten. Früher oder später müsse China Konzessionen machen. Wenn es zu einer starken Weltmacht werden wolle, könne es sich längerfristig keine kostspieligen inneren Konflikte leisten. Die Exilregierung hoffe, dass sich die Lage nach dem bevorstehenden Führungswechsel in Peking wieder etwas entspannen werde.

Viele in Dharamsala haben jedoch genug von friedlichem Widerstand. Die Selbstverbrennungen seien ein Hinweis darauf, dass die Tibeter nicht mehr unter chinesischer Herrschaft leben wollten, sagt Tenzin Chokey von Tibetan Youth Congress, der für eine härtere Gangart plädiert. Um der Kritik in den eigenen Reihen Rechnung zu tragen, hat die Exilregierung für September eine grosse Versammlung einberufen, an der Delegierte aus aller Welt über die jüngsten Entwicklungen beraten sollen. Falls sich der Dalai Lama – der im letzten Jahr alle politische Verantwortung abgetreten hat und offiziell «nur» noch religiöses Oberhaupt der Tibeter ist – tatsächlich aus der Debatte heraushält, könnten sich diesmal durchaus radikalere Stimmen durchsetzen, und der Konflikt zwischen China und den Tibetern könnte sich dadurch weiter verschärfen.

* Name auf Wunsch des Gesprächspartners geändert.

 

China: Ausschreitungen nach Selbstverbrennung von Tibeter
orf.at
15.01.2012

 

Bei Unruhen nach einer neuen Selbstverbrennung eines Tibeters in Südwestchina haben chinesische Sicherheitskräfte das Feuer eröffnet. Mindestens eine ältere Tibeterin sei getötet worden, berichtete die exiltibetische Regierung im indischen Dharamsala heute. Nach den Zusammenstößen gestern in Aba (Provinz Sichuan) wurden noch mehr Opfer befürchtet.

Seit März vergangenen Jahres war es bereits die 16. Selbstverbrennung aus Protest gegen die chinesische Herrschaft über die Tibeter. Die Situation sei eskaliert, als rund 700 Menschen bei der Polizei die Herausgabe des Tibeters gefordert hätten, der sich mit Benzin überschüttet und angezündet hatte, berichteten tibetische Aktionsgruppen. Es werde vermutet, dass der Mann tot ist.

Die exiltibetische Regierung verurteilte die Gewalt gegen Zivilisten und forderte die internationale Gemeinschaft auf, bei der chinesischen Regierung zu intervenieren. Die Vereinten Nationen sollten unabhängige Beobachter in die Region schicken, in der es seit Monaten immer wieder zu Zwischenfällen und Selbstverbrennungen kommt. Die Regierung in Peking hat ein Großaufgebot von Sicherheitskräften nach Aba entsandt.

https://orf.at/v2/stories/2099706
Aufruf: 12.01.2021