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Correggio:
Jupiter und Io
Um 1530

 
Correggio: Jupiter und Io. Um 1530

Walter Stach

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Christoph W. Bauer
Ovid: Der Vater aller Ratgeberliteratur
DER STANDARD
30.12.2017

 

Ovid. Foto: picturedesk
Ovid: Da kommt ein belächelter Provinzler in die
Hauptstadt Rom und wird mit Liebesgedichten
zum Shootingstar. Ein Höhenflug folgt –
doch auf dem Höhepunkt seines Ruhms der tiefe
Fall: die Verbannung.
Foto: picturedesk

„Vivam – Ich werde leben”, so beschließt Publius Ovidius Naso seine „Metamorphosen” – und er sollte recht behalten. Anlässlich seines 2000. Todestags wird allerlei Trubel um seine Person gemacht

Nach wie vor treibt er sein Spiel mit uns, stellt Fragen, deutet Antworten an, scheint greifbar zu werden, verwandelt sich plötzlich in einen anderen. Ovid ist längst wieder in, ein Blick nach Hollywood reicht, wo man sich am Mythenreservoir abarbeitet, das Ovid so meisterhaft in Szene gesetzt hat. Er, der uns eintauchen lässt in die antike Mythenwelt, ist selbst zum Mythos geworden. Seine Biographie mag das ihre dazu beigetragen haben, bietet sie doch Stoff für mehr als einen Roman.

Da kommt ein belächelter Provinzler in die Hauptstadt Rom und wird mit Liebesgedichten zum Shootingstar. Ein Höhenflug folgt – doch auf dem Höhepunkt seines Ruhms der tiefe Fall: die Verbannung ans Schwarze Meer. Seines Rangs als Dichter ist er sich auch im Exil bewusst, er bleibt ungebrochen, unangepasst. Der gefallene Held weiß, mit seinem Status zu punkten. Oder führt er uns nur an der Nase herum? Fast alles, was wir über Ovid zu wissen glauben, entnehmen wir seinen Texten – und die sind Literatur, ein Spiel mit Möglichkeiten. Ein Dichter tritt uns entgegen, der sich diverser Personae bedient. Mal ist er der Verliebte, mal der Frauenversteher und Mythenerklärer, selbst Schminktipps vermag er zu geben. Ovid, und das trägt zweifelsohne zu seiner Modernität bei, stillt ein bis heute andauerndes menschliches Bedürfnis nach Ratgebern in wichtigen Lebensfragen.

Schmerzlich vermisstes Rom

„Sulmo heißt meine Heimat, gesegnet mit kalten Gewässern: neunmal zehntausend Schritt liegt sie entfernt von der Stadt”, so steht es in Ovids Tristia, jenen elegischen Gedichten, die das Genre der Exilliteratur begründen. Mit der Stadt meint er das schmerzlich vermisste Rom, denn er erzählt bereits von seinem Verbannungsort aus. Dabei ist er ganz Dichter seiner Zeit, stellt sich in jene literarische Tradition, die auf einer strikten Trennung von Leben und Kunst beruht. An einer Stelle sagt er: „Glaube mir, verschieden ist mein Wesen von meinem Gedicht (...) Und ein großer Teil meiner Werke ist unwahr und erfunden und hat sich mehr herausgenommen als ihr Verfasser.”

Die beste Biografie ist die erfundene. Hier ist ein Dichter am Werk, der in seine letzte Rolle schlüpft, in der sich freilich die reale Situation eines Schreibenden im Exil widerspiegelt. Nun erfahren wir, dass er dreimal verheiratet war und eine Tochter aus zweiter sowie eine Stieftochter aus dritter Ehe hatte, sein Bruder sei ihm nahegestanden, doch früh verstorben. In der eigenen Autobiographie gibt Ovid so manche Schnurre zum Besten, und schon glauben wir, viel über ihn zu wissen. Fest steht nur: Ovid wurde 43 v. Chr. in Sulmo, dem heutigen Sulmona, in den Abruzzen geboren. Er entstammt einer wohlhabenden Familie, übersiedelt als Jugendlicher nach Rom und kann es sich leisten, im Alter von 20 Jahren als Privatier zu existieren. Rasch macht er als Dichter von sich reden, im Jahr acht n. Chr. wird er aus ungeklärten Gründen nach Tomi, ins heutige rumänische Constanta am Schwarzen Meer verbannt, wo er im Jahr 17 stirbt.

Dass auch sein Exil nur fake sei, wie manche Wissenschafter gegenwärtig behaupten, sagt dies nicht viel über unsere Zeit aus? „Oft sagte mein Vater: Was versuchst du dich an brotlosen Künsten? Sogar Homer hat keine Reichtümer hinterlassen.” Dies ist eine der berühmtesten Passagen aus Ovids Autobiographie. Von den väterlichen Worten erschüttert, habe er sich bemüht, der Verskunst abzuschwören, aber, ach, alles, was er zu sagen versuchte, wurde zum Vers. Ovid ist der erste Dichter, der die Dichtkunst als Beruf wählt. Mit den Amores legt er los, seinen Liebeselegien, Corinna heißt die Angebetete. Sie bringt alles mit, was sich der Dichter von ihr wünscht, existiert sie doch nur in seinem Kopf.

Wie reüssiert man in der Liebe?

Die Lektüre der Amores führt vor Augen, was große Poesie ausmacht, wenn einer sein Werk und nicht sich selbst in den Vordergrund rückt. Wie reüssiert man in der Liebe? Schlag nach bei Ovid! In seinem erotischen Lehrgedicht Ars amatoria, der Liebeskunst, tritt er in der Rolle des Liebeslehrers auf. Dem Mann rät er: Versprich ihr das Blaue vom Himmel, stutz dein Nasenhaar, lass dir Zeit beim Liebesakt. Und der Frau: Mach ihn eifersüchtig, und hast du mal keine Lust, dann täusche sie vor. Sollte es dennoch nicht klappen mit der Zweisamkeit, greife man zu seinem Buch Heilmittel gegen die Liebe und folge den Ratschlägen: Red dir ein, dass er oder sie dir ohnehin nicht gutgetan hat! Stell den oder die Ex öffentlich bloß! Und der wahrlich beste Tipp: Verlieb dich neu!

Er habe sich vor seinem ersten öffentlichen Auftritt gerade erst ein- oder zweimal rasiert, fabuliert Ovid, wie so oft verschwimmt die Grenze zwischen Fiktion und Realität. Ungeachtet dessen hat er ein Werk hinterlassen, das in seiner Spannbreite unübertroffen bleibt in der antiken Poesie. Von der Liebeselegie über die erotische Lehrdichtung, vom Klagelied bis hin zum Versepos, zur Tragödie oder zum Fluchgedicht, zu Kunstbriefen und Kalendern reicht sein Repertoire. Und Poesie will gehört werden, das gilt in der Antike noch mehr als heute. Alle Dichter des Altertums setzen auf Effekte und wohldosierten Klang, und der entfaltet sich bei einer Lesung stärker als bei reiner Textlektüre.

Wie reagiert das Publikum? Sind Korrekturen vorzunehmen? Bisher existiert der Text nur auf einem mit einer Wachsschicht überzogenen Holztäfelchen. Haben die Verse die Probe bestanden, gehen sie an die Abschreiber, zunächst an Freunde, dann an Kopisten, die in öffentlichen Bibliotheken arbeiten, zuletzt an die Angestellten der Buchhändler, die wiederum Abschriften anfertigen. So finden Ovids Bücher ihren Weg in die literarische Welt – wobei von Büchern nicht die Rede sein kann. Eine Papyrusrolle halten die ersten Ovid-Leser in Händen, mühsam gestaltet sich die Lektüre, Worttrennung, Groß- und Kleinschreibung Fehlanzeige, auch Satzzeichen gibt es keine.

Die „Bibel der Heiden”

„Lust zum Lesen bekam ich zum ersten Mal durch die Freude an den Fabeln aus Ovids Metamorphosen”, schreibt Michel de Montaigne in seinen Essais. Und er ist nicht der Einzige, der sich für Ovids bekanntestes Werk begeistert. Gut 250 Mythen verarbeitet Ovid hier und befeuert damit die europäische Fantasie auf Jahrhunderte hinaus. Die Metamorphosen werden zum Handbuch des Mythos schlechthin, in der „Bibel der Heiden”, wie das Werk im Mittelalter genannt wird, lernt man antike Götter und Helden kennen. Sie werden Grundlage für Opern, Gemälde und Romane wie Christoph Ransmayrs Die letzte Welt. Filme mit Starbesetzung sorgen bis heute für volle Kinokassen.

Ovid hatte immer Befürworter, Gegner gleichfalls. Schon Zeitgenossen bescheinigen ihm, er vergeude sein Talent, er sei zu sprunghaft, es mangle ihm an Tiefe. Seine Klagelieder aus der Zeit des Exils gelten bis ins 19. Jahrhundert als „unmännlich”, hier wuchs auch in universitären Kreisen eine Generation heran, die Europa an den Rand des Abgrunds bringen sollte. Wie sich Vertreibung auf Männlichkeit auswirkt, war damals noch nicht Gegenstand der Forschung. Ovid polarisiert, bis heute. Eines der Leitthemen der Metamorphosen, die sexuelle Gewalt, vor allem gegenüber Frauen, sorgt neuerdings an amerikanischen Universitäten für Genderdebatten. Müsse man nicht von der Lektüre des Werks abraten, zumindest einen Warnhinweis anbringen?

„Wer identifikatorisch liest, den Unterschied zwischen Kunst und Leben nicht begriffen hat, der möge sich am besten ganz von Literatur fernhalten”, schreibt Melanie Möller, Professorin am Institut für Griechische und Lateinische Philologie der Freien Universität Berlin. Ist dem etwas hinzuzufügen? „Ein Barbar bin ich hier, weil ich von niemandem verstanden werde”, ruft uns Ovid aus seinem Verbannungsort zu. Warum er verbannt wurde, darüber hält er sich bedeckt. Spekulationen gibt es zuhauf. Was immer er gesehen oder gesagt haben mag, der zu bezahlende Preis war hoch. Wer sich nicht anpasst, und das trifft auf Ovid zu, läuft damals wie heute Gefahr, sich Repressalien auszusetzen. Seine Verbannung war eine Relegation, er durfte sein Vermögen behalten, und seine Bücher wurden weiter gelesen, selbst die in Tomi verfassten Gedichte.

Dennoch: Ob Exil oder Relegation, ob Wirklichkeit oder Erfindung, Ovid gewährt Einblick in sein Leben in der Fremde. Worunter er am meisten leidet, ist die Sehnsucht nach Heimat – ähnlich wie die Menschen, die im Zuge der Verbrechen des vergangenen Jahrhunderts ihre Heimat verlassen mussten oder jene, die gegenwärtig bei uns Zuflucht suchen. „Vivam – Ich werde leben!”, hatte Ovid angekündigt. Er lebt. Das steht außer Frage.

https://derstandard.at/2000071189247/Ovid-Der-Vater-aller-Ratgeberliteratur
Aufruf: 30.12.2017

 
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